next up previous contents index
Nächste Seite: 3.3 Erklärungsmodell Chaostheorie Aufwärts: 3 Transformationsprozess Vorherige Seite: 3.1 Überblick   Inhalt   Index


3.2 Erklärungsmodell Synergetik

Als erstes Erklärungsmodell wird die Wissenschaftsdisziplin Synergetik kurz umrissen. Synergetik ist die ,,Lehre vom Zusammenwirken`` (Hak91, S. 17), entwickelt in den 60er Jahren von Hermann Haken. Zu dieser Zeit entdeckte er die Lasertechnik. Dabei war von Interesse, warum sich die an einer diffusen Lichtquelle ausgestrahlten verschiedenen Lichtwellen zu einer Lichtwelle bündeln und sich dadurch der Laserstrahl (monochromatisches Licht) bildet. Anders formuliert lässt sich fragen, warum kommt es unter verschiedenen Lichtwellen zu einer Selbstorganisation mit dem Ergebnis einer einzigen Lichtwelle? Anhand dieser Frage ergibt sich die Definition des Begriffes Selbstorganisation. In einem System spricht man von Selbstorganisation, wenn ein Systemzustand einzig von den Systemelementen und den Relationen hervorgerufen wird, ohne Einfluss der Umwelt auf das System.

Die Synergetik versteht sich als eine fachübergreifende Wissenschaftsdisziplin (Hak91, S. 21) ähnlich der Mathematik und Statistik. Haken betont, dass die Synergetik nicht nur auf die Naturwissenschaft (z. B. Physik) angewendet werden kann, sondern eine Anwendung z. B. in Gesellschaftswissenschaften wie der Soziologie ebenfalls möglich ist. Für die Synergetik wurde von Haken ein umfangreiches mathematisches Formelwerk (vgl. Hak90) entwickelt. Danach kann die Synergetik verstanden werden als ein ,,Konzept zur Erklärung von Ordnungsbildung in stochastischen System mit vielen interagierenden Einheiten``. (Pas92, S. 3) An dieser Stelle wird auf eine mathematische Darstellung verzichtet und es folgt eine sprachliche Darstellung.

Ausgangspunkt der Betrachtungen zur Synergetik ist die Frage, warum sich im Universum komplexe Strukturen entwickeln konnten, wenn allein der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (Hak91, S. 25ff) gilt? Der zweite Hauptsatz besagt, dass in einem geschlossenem System die Unordnung stets zunimmt. So findet z. B. in einem beheiztem Wasserkessel solange ein Wärmeaustausch statt, bis alle Wassermoleküle gleichmäßig verteilt sind und kein Temperaturunterschied innerhalb des Wasserkessels mehr besteht. Dieser Vorgang ist nicht umkehrbar, er ist irreversibel. Man wird nicht beobachten, dass sich plötzlich wieder Temperaturunterschiede in einem Wasserkessel ergeben.

Trotz des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik hat sich aber im Universum eine Vielzahl von bemerkenswerten Strukturen herausgebildet, wie z. B. das Leben auf unserer Erde. Es ist sehr unwahrscheinlich, wenn dies lediglich Zufall sein sollte. Haken untersucht deshalb mit der Synergetik, wie sich eine große Anzahl von Einzelelementen zu höheren Strukturen selbstorganisieren.

Da in der Synergetik eine Reihe von neuen Begriffen eingeführt werden, erfolgt die Darstellung an einem Beispiel (nach Pas92, S. 6). Dazu stelle man sich eine stark frequentierte Treppe in einem Gebäude vor. Die Treppe wird von vielen Menschen in beiden Richtungen genutzt. Am Anfang erwartet man, dass alle Menschen wild durcheinander gehen und sich dadurch gegenseitig behindern, wie in Abbildung 2 Teilbild a) auf Seite [*] gezeigt. Nun kann es passieren, dass einige Menschen der Spur ihres Vordermanns folgen. Aus diesem spontanen Verhalten kann eine Ordnung entstehen, wenn mehrere Menschen dem Beispiel folgen und ebenfalls die Spur für ihre Richtung wählen. Jetzt wird diese Spur für die Bewegung der Menschen zu einer Art Vorgabe (Abbildung 2 Teilbild b)). Haken bezeichnet dies als Ordner. Der Ordner zwingt die Individuen sich dieser Ordnung anzupassen. In der Sprache der Synergetik versklavt der Ordner die Individuen. Durch diesen Vorgang ist aus einer vorher völlig zufälligen Bewegung der Menschen auf der Treppe eine geordnete Bewegung entstanden (Abbildung 2 Teilbild c)). Der Ordner existierte nicht von Anfang an, sondern hat sich spontan aus dem Verhalten der Individuen ergeben. Haken spricht hier von einem Phasenübergang. In der Folge hat der Ordner einen starken Einfluss auf das Verhalten der Individuen. Dadurch ergibt sich ein geschlossener Regelkreis, da der Ordner erst aus dem Verhalten der Individuen hervorgegangen ist, nun aber das Verhalten der Individuen entscheidend beeinflusst. Dies bezeichnet man als Zirkularität.

Abbildung 2: Synergetik am Beispiel Entstehung von Ordnung auf einer Treppe
Image ordnung

Haken formuliert, dass sich durch die Versklavung der Individuen durch den Ordner ein Phasenübergang bildet. Während des Phasenübergangs zeigen sich bereits Eigenschaften von beiden Phasen. Allerdings besteht keine Kausalität zwischen den Phasen. Es kann nicht vorhergesagt werden, welcher neue Zustand durch den Ordner hervorgerufen wird. Am Beispiel der Treppe ist es in Deutschland sehr wahrscheinlich, dass sich ,,Rechtsverkehr`` ergibt. Allerdings ist das nicht zwangsläufig. Schon wenige englische Touristen auf der Treppe reichen aus, um vielleicht einen Ordner für ,,Linksverkehr`` zu bilden. Haken versteht unter Nicht-Linearität, dass kleinste Änderungen der Systemstruktur - eine Fluktuation - riesige Auswirkungen auf den Systemzustand haben können.

Durch die Ordner findet eine Komplexitätsreduzierung statt. Es ist nicht nötig das genaue Verhalten der einzelnen Individuen zu kennen, es reicht zu wissen, welche Ordner für die Individuen maßgebend sind. (Hak91, S. 23) Als Beispiel führt Haken die Erbsubstanz DNS (Desoxyribonukleinsäure) der Lebewesen an. (Hak91, S. 95ff) Trotz des riesigen Umfangs der DNS ist in dieser nicht die Information für jede einzelne Körperzelle abgelegt. Vielmehr enthält die DNS lediglich Informationen für die verschiedenen Zelltypen sowie die Information zur Bildung von Ordnern, die für eine Strukturierung der Zellen sorgen.

Während der Selbstorganisation kann es passieren, dass mehrere Zustände nach dem Phasenübergang gleich wahrscheinlich sind. In dieser Situation entscheidet der Zufall, welcher Zustand sich nach dem Phasenübergang ergibt. (Hak91, S. 109ff) Daraus folgt, dass eine Vorhersagbarkeit nicht möglich ist. Das System neigt zum Nicht-Determinismus.

Damit es überhaupt zu einem Phasenübergang kommt, muss dem System Energie zugeführt werden. In sozialen Systemen tritt an die Stelle der Energie die Information. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass das System Unordnung an seine Umwelt exportiert und von der Umwelt Struktur, in Form von Information, aufnimmt. Durch die Zuführung von Energie (Information) wird der zweite Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt. Weiterhin muss das System aus einer größeren Anzahl von Systemelementen bestehen, damit Ordnern entstehen können. Die konkrete Anzahl der benötigten Systemelemente hängt vom System und der Vernetztheit der Elemente ab und kann mit dem mathematischen Modell von Haken abgeschätzt werden. Elemente sind dann vernetzt, wenn die Änderung eines Elementes sich über mehrere Stationen auf dieses Element wieder auswirkt. Dies bezeichnet man als Rückkoppelung.

Da die Synergetik im Umfeld der Naturwissenschaften entstanden ist, fällt eine Übertragung auf gesellschaftliche Emergenzphänomene schwer und wird von vielen Autoren kritisch hinterfragt. So lassen sich mit der Synergetik z. B. Diktaturen rechtfertigen. Trotzdem unterstützt die Synergetik durch ihre klare sprachliche Formulierung das Verständnis von Emergenz.


next up previous contents index
Nächste Seite: 3.3 Erklärungsmodell Chaostheorie Aufwärts: 3 Transformationsprozess Vorherige Seite: 3.1 Überblick   Inhalt   Index
Sebastian Stein 2004-08-30